Anpacken geht nicht im Anzug

40 Jahre im Dienst  für andere Menschen, davon 37 bei Kirche und Diakonie, davon 30 bei der Sozialpädagogischen Familienhilfe, davon 23 Jahre als Einrichtungsleiter. Jetzt, zum Jahresende, befiehlt ein geheimnisvoller Zauber namens Altersteilzeit den Summenstrich. Additionen weiterer Dienstjahre sind strikt zu unterlassen. Die Bilanz ist zu erstellen. Soweit so gut. Leider sind Zahlen ein denkbar schlechter Versuch, der Lebensleistung von Erwin Burkhardt gerecht zu werden, so schillernd sie glänzen mögen.

Rückblende. 5. Dezember 2015: An einem nasskalten Wintersamstag befinden sich Erwin Burkhardt und ein Kollege im kahlen Untergeschoss des  CVJM Hauses in Möglingen, umgeben von Kanthölzern, Brettern und Aufbauanleitungen eines namhaften All-Inclusive-Möbelherstellers. Überraschend fügt sich das schwedische Teile-Rätsel zu Stockbetten, Stühlen und Tischen zusammen. Wände werden gestrichen und Böden verlegt. Einige Stunden später ist aus dem gefliesten Gruppenraum eine schmucke Wohnung geworden. Nur wenige Tage nach dieser Aktion werden hier junge Männer nach langer Flucht aus Kriegsgebieten eine mehrjährige Bleibe finden.

Erwin Burkhardt, der Schreiner? Ist er nicht Sozialpädagoge und Leiter einer über 40 Personen umfassenden Jugendhilfeeinrichtung? Ist er nicht mit der Organisation von vier Teams vollauf beschäftigt? Was tut er im kalten Keller eines Freizeitheims?

Er packt an. Die Länge dieses ausgesprochenen Satzes entspricht in etwa seiner Reaktionszeit in Notfällen. Vielleicht hat ihm seine erste berufliche Station als Rettungssanitäter unmissverständlich eingebleut: In Notfällen musst du handeln und nicht abwarten. Da musst du anpacken und nicht nur reden.

Die Rhetorik und das Rüstzeug dazu hat er sich dann trotzdem angeeignet. Acht Semester Sozialpädagogik an der damaligen Fachhochschule Reutlingen gaben ihm die Grundlagen für das, was fortan den Rest seines Berufslebens prägen wird: Die Arbeit mit mehr oder weniger motivierten Kindern und Jugendlichen. Zunächst unmittelbar und direkt als Jugendreferent des Evangelischen Jugendwerks, mit verregneten Zeltlagern, kurzen Nächten auf Lehrgängen und Eintopf aus der Gulaschkanone.

Derart gestählt, sollte Anfang der 90er Jahre auch der Sprung in die ambulante Erziehungshilfe der Sozialstation Ludwigsburg gelingen. Satte sieben Jahre fügte sich Erwin Burkhardt dem heute noch legendären wie unvorstellbaren Prinzip der damaligen Basisdemokratie im Kollegenkreis („Hierarchie schließt Qualität und Kreativität aus“) mit jährlich wechselnden Koordinatoren, ehe sich seine natürlichen Instinkte als Anpacker nicht mehr unterdrücken ließen.  Schließlich wurde er 1998 zum ersten und bis heute einzigen Bereichsleiter der Sozialpädagogischen Familienhilfe gewählt. Gerade noch rechtzeitig, denn ein Jahr später stand die Fusion zur Diakonie- und Sozialstation Ludwigsburg an und mit ihr ein ökonomisierterer Blick auf die ambulante Erziehungshilfe. Hatte zu Beginn seiner Anstellung eine Vollkraft im Schnitt 3,1 Familien wöchentlich zu betreuen, waren es zehn Jahre später bereits doppelt und heute dreimal so viele. Mit den Fallzahlen kamen neue Mitarbeitenden. Die Zahl betreuter Familien pendelte sich auf ca. 200 im Landkreis ein.

Zusätzlich zum Pädagogen war nun der Sozialmanager gefragt. Erwin Burkhardts dreimonatige BWL-Schnellbleiche mag zwar nicht die Tiefen betriebswirtschaftlicher Analytik ausgeleuchtet haben. Sie reichte für ein verblüffende Erkenntnis ratloser Geschäftsführer: Herr Burkhardt versteht uns. Er spricht unsere Sprache.

Fortan zog er in Sitzungen beeindruckende Statistiken und Tabellen hervor. Jahrelang handgemalt unter bestmöglicher Vermeidung fremdartiger Gefahren wie Excel-Tools oder Power Point. Und immer bereit, dazu zu lernen. Auch als bekennender EDV-Laie ließ er sich nicht abschütteln. Er blieb am Ball. Er gewann frühzeitig seine Mitarbeitenden für die Nutzung von Smartphones und Notebooks. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade er auf den letzten Metern seiner aktiven Zeit seinen Mitarbeitenden eine Dokumentationssoftware verordnete.

Beizeiten verstand er es, Verantwortung und Lasten zu teilen. Er führte Teams ein, installierte Teamleitungen und blieb seinen Ansprüchen treu. „Keine Abstriche an Qualität“. Damit überzeugte er den Kostenträger. Ein akademischer Abschluss ist bis zum heutigen Tag Einstellungsvoraussetzung.

Die Gründung der Fachstelle „Frühe Hilfen“ im Jahr 2008 ging mit auf seine Initiative zurück. Für das Ausbildungspatenmodell „JobCoach“ stand er als Mentor ebenso zu Verfügung wie für Hilfekonzepte in Eingliederungshilfe oder Familientherapie. Dank seiner fleissigen Überzeugungsarbeit finden die Gruppenangebote in einem eigenen Gebäude in der Leonberger Straße statt. 

Und dann kam der Herbst 2015. Erneut war der Anpacker gefragt. Statt Anzug die Arbeitsklamotten. Ein Hilfsangebot für 30 junge geflüchtete Männer musste eiligst errichtet werden: Unterkünfte bereitstellen, Mitarbeitende anleiten, Verängstigten Hoffnung geben.

Er ging voran. Und er machte es leicht, ihm zu folgen. Erwin Burkhardt hinterlässt ein gut bestelltes Feld. Langjährige Weggefährtinnen übernehmen den Staffelstab. Als kommissarische Bereichsleiterin wird seine Stellvertreterin Karin Haller fungieren. Als Teamleitungen sind Martina Ruthardt und Nadine Böttner mit im Boot.

30 Jahre Familienhilfe hinterlassen Spuren. Sie machen auch robust. Sogar gegen den Schmerz der abgesagten Verabschiedungsfeier. So pragmatisch wie er angefangen hat, hört er auf: Eine Feier im nächsten Jahr? Kein Problem.

Thomas Schickle